… und dann habe ich also alle diese Tools beherzigt. Und eingeübt. Und nochmals geübt. Und dann bin ich in einer Sitzung, werde von einem Kollegen angegriffen, und alles ist vergessen: Ich steige auf jede noch so plumpe Provokation ein, widerspreche nach allen Regeln der Eskalation, bis wir uns beide anschreien. Und erst viel später, so ungefähr nach dem dritten Bier, komme ich zur Besinnung und schüttle den Kopf über mich selbst.
Wie konnte mir das passieren?
In solchen Momenten denke ich an eine kleine Szene aus einem Fussball-Champions-League-Finale: Lionel Messi erhält im seitlichen Mittelfeld einen Pass zugespielt, weit und breit kein Gegenspieler, er hebt den Kopf auf der Suche nach einem Mitspieler – und der Ball rollt ihm unter seinem Fuss hindurch ins Aus. Messi bleibt wie angewurzelt stehen und schaut dem Ball nach, als könne er nicht glauben, was da gerade passiert, ihm, einem der besten Fussballer aller Zeiten, so ein lapidarer Fehler.
Die Szene ist nirgends mehr auffindbar, auch nicht in den «Messi fails»-Videoclips auf YouTube. Wahrscheinlich war sie für viele schlicht zu banal. Für mich als Amateurkicker war sie jedoch tröstlich und wurde zu einem Symbol für das Leben mit Konflikten. Denn Fuss und Ball, das passt irgendwie nur schwer zusammen oder ist zumindest eine komplizierte Beziehung. Wie die zwischen Menschen.
Wenn mein Handballfreund sich wieder einmal darüber enerviert, wie eine dermassen torarme, fehlerhafte Sache die Sportwelt so dominieren kann, dann pflege ich zu sagen: «Genau darum.» Weil Fussball ein spielerisches Abbild unseres Lebens ist. Im Fussball ist das Scheitern das Normale, so wie im Leben. Nach jedem miesen Pass, nach jeder vergebenen «100-prozentigen Chance» gilt:
Weitermachen. – Nochmals probieren. – Neunzigmal pro Spiel.
So läuft es auch im menschlichen Alltag: Pleiten, Pech und Pannen, allüberall.
Der aufreizend langsame Autofahrer vor mir heute Morgen: Wie das zehnte Mal im Offside gestanden. Die endlose Jammerei der Vorgesetzten: Wie ein zähes Null zu Null. Am Abend Krach mit meiner Frau, wegen einer läppischen Kleinigkeit: Wie der kapitale Fehlpass vor dem eigenen Strafraum. Fussball lehrt uns Demut angesichts der eigenen Fehlbarkeit. Also gilt auch bei misslungenen Konflikten: aufstehen, zerschundene Knie abwischen, Kapitänsbinde richten, weiter gehts.
Haben Sie sich im letzten Streit mit Ihrem Sohn nach einer Provokation zu einer «Blutgrätsche» hinreissen lassen? Entschuldigen Sie sich und akzeptieren Sie eine rote Karte. Nach der Sperre sind Sie wieder im Spiel und können es besser machen. Der nächste Zweikampf kommt bestimmt.
Aber (!) auch das Umgekehrte gilt. Fussball lehrt uns, was Gnade ist. Dann nämlich, wenn ein gelungener Fallrückzieher ein ganzes Stadion in Ekstase versetzt. Win-win am Ende eines Konflikts, das ist immer auch Glück wie ein Freistoss ins Lattenkreuz. Unplanbar, auch nach 1000 Wiederholungen im Training. Konflikte konstruktiv umwandeln, das ist immer so beglückend wie ein Traumtor meines Lieblingsvereins in der letzten Spielminute.
Gönnen Sie sich also von Zeit zu Zeit ruhig einen total übertriebenen Torjubel.